Dr. Jochen Dingkuhn

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Dr. Jochen Dingkuhn, Sohn der Malerin, schreibt über
Elsa Haensgen-Dingkuhn

Aus dem Ausstellungskatalog „Kinder“ (Hg. Hotel Elysee, Christa Block, Hamburg, 1998)

Zur Malerin
Elsa Haensgen-Dingkuhn

„Kinder vor Kastanienallee“, 1930, Öl. Privatbesitz

Unser Jahrhundert, einst als „Jahrhundert des Kindes“ (Ellen Key, 1900) vorausgesagt, begann mit einer Kinder-Zugewandtheit ohne gleichen. Eine forschende Psychologie entdeckte das Kind für sich, und eine neue Pädagogik machte es zum handelnden Subjekt , das durch sein natürliches Wachstum geleitet wird.
Im zweiten Halbjahrhundert ging die zentrale Stellung des Kindes auf die der Jugendlichen über, für die sich eine eigene Kultur mit ihren Märkten entwickelt hat. Zu den bleibenden Früchten zählen Kinder- und Jugendschutz, eine erweiterte Rechtsstellung des Kindes und anderes mehr. Heute wird das öffentliche Interesse am Kind überlagert von der Versorgungs- und Unterhaltungsindustrie im Kampf um Marktanteile: dazu gehört der nahezu unüberschaubar gewordene Kinderbuchmarkt, eine fortlaufend expandierende Spielwarenindustrie sowie eigene Sendungen und Kinderkanäle im Fernsehen.

All dem Gegenüber trat das Interesse an der Innenwelt des Kindes, an Kind und Kindheit als eigenständigen Phänomenen, im letzten Halbjahrhundert mehr und mehr in den Hintergrund. Gleichzeitig ist auch eine künstlerische Deutung von Kind und Kindesalter im Medium der Malerei auf der Strecke geblieben. Das zeigt nicht nur den Verlust entsprechender Darstellungsweisen und zugleich der Gattung Porträt-Malerei an, sondern ist darüberhinaus symptomatisch: das Kind als hortus conclusus, als Ort einer hermetischen Inkubation, als ein fast mysteriöses Gelände außerhalb der Wege der Erwachsenen, wurde und wird weder zureichend erkannt noch aus der Sicht der Künstler gedeutet. Das Kind ist auf offiziöser Kunstebene seit langem nicht mehr darstellungswürdig.

Hinzu kommt, daß noch immer die schwere Hypothek eines „arisch“orientierten Menschenbildes auf uns lastet. Heute dominieren,unter Verzicht auf das Medium Kunst, schichtenspezifischeBetrachtungsweisen, und andererseits vernebeln die konsumorientierten, putzmunteren Kindergestalten der Werbung uns die Sicht.

Die Malerin E.H.D. stand von Anfang an solchen Tendenzen und Orientierungen fern. Auch war sie nach ihrer ganzen Veranlagung ideologischen Ausrichtungen und Inanspruchnahmen gegenüber unzugänglich – mag ihr auch der Verwurf eines gelegentlich mehr illustrativen als deutenden Befaßtseins mit dem Kinde gemacht werden. Ebenso, daß sie das Kind in späteren Schaffensperioden in eine „heile“, alltagsentrückte Sphäre einschloß, freilich nachdem sie es in den mittleren 20er Jahren oft genug in ärmlichen, wenn nicht elenden Verhältnissen dargestellt hatte, ja sogar entstellte ( vgl. die Abb. 3-3 bis 3-10 ). Dies alles tut ihrer Sonderstellung und Unverwechselbarkeit als Interpretin von Kind und Kindsein keinen Abbruch. Das gilt qualitativ wie auch quantitiv: wohl kein bildender Künstler, keine Künstlerin, hatte je ein solches Aufgebot von Einzelwerken zu dieser Thematik vorzuweisen, in einer wirklich ungewöhnlichen Fixiertheit auf den immer erneut varriierten Gegenstand einer großen Liebe und daher auch Vorliebe.

Sie schließt den ästhetischen Charme des Kindes- und Jugendalters nicht aus, trennt ihn aber von bloßer Niedlichkeit, macht auch jedes Kind zur unverwechselbaren Person. Das äußere Erscheinungsbild ist von gleicher Vielfalt und leitet sich aus den jeweiligen regionalen Gegebenheiten her.

Viele Bilder mit Kindern verweisen auf den größeren Kontext, auf den existentiellen Zusammenhalt: Mutterschaft und der Kontrapost Kindheit – Alter sind aus dem Lebenswerk der E.H.D. nicht wegzudenken. Die christliche Tradition des Madonnenbildes hat sie, die keine Kirchgängerin war, bis hin zu direkten Anknüpfungen nicht unberührt gelassen. Die Mutterschaftsthematik nimmt einen sehr breiten Raum in ihrem Schaffen ein und mag einem zeitgeistbestimmten Empfinden der Gegenwart immer noch ungelegen sein. Auch hier lastet die Hypothek der Nazi-Zeit schwer, wobei die Skepsis bestimmter feministischer Anschauungen von heute hinzutreten können. E.H.D. wollte in ihrem Metier es nicht den Männern gleichtun sondern tat es de facto in einer eigenen, sehr überzeugenden Weise: sie war eine ganz und gar weibliche, frauliche, in Wahrheit emanzipierte Künstlerin, ohne den geringsten Beigeschmack von Egozentrik und weiblicher Frontstellung gegen die Männerwelt. Auch geht ihren Arbeiten jede Spur von vager Gefühligkeit oder kunstgewerblichem Häkelfleiß ab.
Ihr Werk erweist sich als das einer starken Frauenpersönlichkeit, die eine Männern nur schwer erschließbare Domäne verwaltet.
Sie paßt in kein Schema, vorübergehend allenfalls in ein stilgeschichtliches. Viele Arbeiten entsprechender Entstehungszeit sind der Neuen Sachlichkeit zuzuordnen; andere, frühe, verraten Nachwehen des Expressionismus. Sie war als Persönlichkeit stark und unabhängig genug, sich dem von Spießertum und Laienhaftigkeit geleiteten Kunstverständnis der Nationalsozialisten nicht anzubequemen. Ihr Werk läßt weder zu Beginn noch nach Ende der braunen Herrschaft irgendeine persönliche Zäsur erkennen. Im Rückblick auf ihr Gesamtwerk erscheint dieses gleichwohl eingebettet in das sich wandelnde Lebensgefühl ihrer Epoche.

Persönlichkeitsbedingt war sie nicht versucht, dem allgemeinen Abstraktionsgebot der beiden Nachkriegsjahrzehnte Folge zu leisten und ärgerte sich etwas über das plötzliche Umschwenken altersgleicher Zunftkollegen, die sie persönlich kannte und als Realisten erlebt hatte. Zweifellos war sie keine Pionierin der Reduktion und der formalen Innovation, wollte es nach eigenem Bekunden auch nie sein. Das für Rang und Bedeutung eines Künstlers maßgeblich gewordene Kriterium des innovatorischen Beitrags im unaufhaltsamen Gang der Kunstgeschichte – selbst ein Zeitphänomen – entspringt einem Fortschrittsglauben und fordert den perpetuierten Avantgardismus, den immer neuen Einfall.
Dieses Kriterium wird der Lebensleistung der E.H.D. nicht gerecht und würde am Besonderen ihrer Malerei vorbeiführen. Sie wollte nicht die Kunst voranbringen, sondern sie brachte Kunst dann hervor, wenn sie sich ihrer Thematik ganz hingab.

Demzufolge war E.H.D. eine unpolitische Künstlerin. Vielleicht bilden viele ihrer Mileuschilderungen aus den 20 er Jahren eine Ausnahme: hier schwankte sie zwischen Sozialkritik und Satire. Dies zugestanden fehlte ihren Arbeiten jedoch die kapitalismuskritische Komponente, wie sie etwa bei George Grosz gegeben war.
In ideologischer und klassenspezifischer Hinsicht indifferent, zog sie es dennoch vor, ihre erfundenen Szenen und Gestalten in der Welt der „kleinen Leute“ anzusiedeln; nur eben anders, als die politisch motivierte Käthe Kollwitz es getan hatte. Bei den Arbeitern oder Kleinbürgern und ihren Frauen und Kindern suchte sie das Einfache, Unverstellte und Kreatürliche, das sie in ihren Bildern zum Ausdruck brachte. Es waren ähnliche Impulse wie die der Paula Becker-Modersohn, über deren Arbeiten sie sich mit größter Hochachtung äußerte.

Die „Kids“ von heute – modebewußt, geübte Inline-Skater, in trendhaftem Outfit – haben sie noch irgendetwas zu tun mit den braven, bezopften Mädchen der E.H.D., mit dem versonnen Ausdruck ihrer Gesichter, und dazu fast im Regelfall mit einer Blume als Attribut versehen? Diese Frage wurde unlängst, im Urteil einer fachlich durchaus beschlagenen Persönlichkeit, mit einem entschiedenen „Nein“ beantwortet: als Kinderdarstellerin verdiene die E.H.D. allenfalls noch historisches Interesse, die entsprechenden Bilder seien für unsere Zeit nicht mehr von Belang. Diesem Verdikt mag sich nicht jeder anschließen wollen – kommt es doch wesentlich darauf an, auf welcher Verständnisebene diese Bilder rezipiert und bewertet werden. Es stellt sich also die Frage nach der Allgemeingültigkeit, und das heißt hier, nach dem Symbolcharakter ihrer Kinderdarstellungen. Denn auch zu ihrer Zeit haben diese „Kompositionen“, wie sie sie stets nannte, dem damaligen Erscheinungsbild der Kinder und Jugendlichen nur bedingt entsprochen.

Zwar lehnte E.H.D. eine streng symbolische Interpretation ihrer Bilder ab. Sie amüsierte sich über eine angehende Kunsthistorikerin, die die auf ihrem Bild dargestellten Hühner als Fruchtbarkeitssymbole deutete. Gleichwohl bediente sie sich mit einer gewissen Beharrlichkeit wiederkehrender Symbole, wenn auch wohl ohne den bewußten Willen zur symbolischen Aussage.

Fast habituell, ohne erkennbare Notwendigkeit, gab sie ihren erfundenen Kindergestalten Blumen in die Hand und stellte sie sehr häufig in Alleen, die in die Tiefe des Raumes führen oder aus dieser kommen. Ihren räumlichen Bilderfindungen liegt zumeist, wie einst in der symbolhaltigen Malerei des Mittelalters, ein unnatürlich hoher Betrachterstandpunkt zugrunde. In ihren Naturstudien und Landschaftsbildern dagegen fehlt jede symbolische Bildebene. Sie konnte, wenn sie wollte, die perspektivischen Gesetzmäßigkeiten sehr wohl beachten und hatte in ihrem Kunststudium das sonstige Repertoire des realistisch-akademischen Darstellens erworben.

Durch die Verbindung von Gesehenem und Vorgestelltem im Bild entwickelte sie ihre eigene, lyrisch überhöhte Form. Dieses Verfahren – von ihr schlicht „Komposition“ genannt – verbindet sie künstlerisch einerseits mit der realistischen Tradition und läßt sie andererseits den reinen Naturalismus überwinden – ohne dabei formalistisch oder konzeptionell zu werden.

Die Malerin E.H.D. will deshalb auf zwei Ebenen, die sich in ihrem Werk nur selten vermischen, verstanden und gewürdigt sein: als eine Porträtistin von oft hohen Graden, auch der Einfühlung – und als Symbolistin eigener Prägung in den von ihr so benannten „Kompositionen“. Die Blume in der Hand des Kindes ist mehr als eine dekorative Beigabe – sie symbolisiert den körperlichen und seelischen Zustand des Erblühens oder Erblühtseins. Dies gilt auch für die oft üppige Blumenpracht, mit der sie ihre kindlichen oder jugendlichen Gestalten gern umgab.
In diesen Bildern vermischen sich die Bildformen des Porträts und der Komposition. Die pflanzlichen Beigaben interpretieren den Zustand ihrer Geschöpfe oder auch Modelle – es sind Symbole des Wachsens und damit des Lebens selbst.
Hier liegt der Kern ihrer künstlerischen Antriebe, die sie mit einer singulären, liebevollen Unermüdlichkeit sich immer erneut Kindern und jungen Menschen zuwenden ließ. Nicht selten tritt kontrastierend das Alter hinzu.
Manche ihrer Kompositionen sind als Lebensalter-Parabeln deutbar, und ihre Alleen und Straßen stiften nicht nur kompositorischen Zusammenhalt, sondern deuten auch die Begrenztheit von Wachstum und Blüte an, sind Lebenswege im übertragenen Sinne. Diese Tiefe der Bilder macht sie zu allgemeingültigen und anrührenden Zeugnissen einer Sicht auf den Menschen, insbesondere auf die Kinder, die Dauerhaftigkeit verleiht.